Ecco Le Marche

Befand sich das ursprüngliche Grab Karls des Großen in San Claudio im Val di Chienti und nicht, wie bisher angenommen, in Aachen? Und befand sich das Zentrum seiner Macht, das Aquisgrana, nicht in Aachen, sondern ebenso im Val di Chienti?

Mitte der 1990er Jahre stellte Prof. Giovanni Carnevale, dereinst Professor an der Universität von Macerata, unter anderem diese provokanten Thesen auf und gründete das Studienzentrum Centro Studi Giovanni Carnevale, um sich auf die weitere Forschung zu diesem Thema zu fokussieren.

Mir als Aachenerin sind diese Thesen natürlich suspekt, definiert sich „mein Aachen“ historisch hauptsächlich durch Karl den Großen und zieht damit unzählige Touristen und zur Verleihung des Karlspreises Politiker aus aller Welt an. Aber interessant finde ich sie schon, und so begab ich mich mit Isabelle nach San Claudio im Val di Chienti, um mehr darüber zu erfahren:

Direkt an der San-Claudio-Kirche befindet sich ein großer Parkplatz, wo wir bequem parken können. In der Kirche selbst scheint eine Trauerfeier stattzufinden, die wir nicht stören wollen. Also spazieren wir erst einmal außen herum und bewundern die wirklich eigentümliche Architektur: San Claudio sieht gar nicht so sehr wie eine Kirche aus. Die 2 Türme vorne sehen fast wie Späh- oder Wehrtürme aus und das ganze Gebäude mutet schon ein bisschen orientalisch an. In jedem Fall ungewöhnlich!

Vorne führt eine große Treppe auf die erste Etage mit einem eigenen Eingang, und so gehen wir hinauf, um zu sehen, ob wir dort schon einmal hineingehen können, ohne zu stören. Ein Pfarrer kommt aus der Tür heraus und erklärt uns mit leiser Stimme, dass wir nicht eintreten könnten: Sie bauten gerade die Ausstellung ab, die sich den Thesen Carnevales widmet und die jahrelang dort aufgebaut war. Denn auf Geheiß des neuen Bischofs dürften sie diese Ausstellung zukünftig nicht mehr zeigen. Als wir sagten, wir wären Bloggerinnen und ich käme aus Aachen, ließ er uns aber doch kurz hineinschlüpfen.

Die Hauptthesen der Theorie über Karl den Großen im Val di Chienti:

Die zentralen Thesen Carnevales sind folgende:

  • Das ursprüngliche Grab Karls des Großen befände sich nicht in Aachen, sondern in San Claudio im Val di Chienti.
  • Das Machtzentrum Karls des Großen, das in den damaligen Schriften (zum Beispiel denen des Hofbiografen Einhardt (Eginardo)) Aquisgranum genannt wird, läge nicht in Aachen, sondern hier im Val di Chienti mit San Claudio als Pfalzkapelle.
  • Erst zwischen 1165 und 1170 habe Kaiser Barbarossa (Friedrich I.) die Gebeine Karls mitsamt einigen Ausstattungen der Kapelle von San Claudio nach Aachen gebracht, um Aachen als neues Machtzentrum zu etablieren.
Eine (moderne) Steintafel in San Claudio weist darauf hin, dass hier Karl der Große begraben wurde.

Wow! Das ist starker Tobak, möchte ich meinen. Mein Uronkel, Dr. Heinrich Schiffers, war Leiter des bischöflichen Archivs von Aachen und zeitweise auch Leiter des Stadtarchivs. Bereits in den Jahren 1922/23 stritt er mit dem Dombaumeister Prof. Buchkremer und einem Prof. Teichmann darum, wo sich genau im Aachener Dom das ursprüngliche Karlsgrab befunden haben soll.

Soweit ich weiß, wurde das Grab bis heute in Aachen nicht entdeckt. In San Claudio bisher aber auch nicht. Es geht also um Thesen auf der Basis von Indizien und Schriften.

Die Hauptargumente für Prof. Carnevales These:

Unter Prof. Carnevale entstanden am Studienzentrum von San Claudio eine ganze Reihe von Büchern zum Thema, aber hier ein paar der vielleicht wichtigsten Argumente:

  • Das ursprüngliche Grab wurde in Aachen bis heute nicht entdeckt. Vielleicht befinde es sich ja gar nicht dort, sondern in San Claudio. Dabei ist von allen unbestritten, dass die Gebeine Karls heute im Karlsschrein in Aachen liegen. Forensiker haben überdies bestätigt, dass es sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit um Karls Knochen handelt: Sie stammen von einem großen (!) Mann, der ähnliche Krankheitsbilder und Verletzungen wie Karl aufwies.
  • Die historischen Schriften sprechen davon, dass das Grab Karls durch Friedrich I. (Barbarossa) erhoben und in einen anderen Sarg umgebettet wurde. Bisher ging man davon aus, dass die Umbettung innerhalb von Aachen geschah, also vom ursprünglichen (noch nicht entdeckten) Grab in Aachen in einen Schrein. Carnevales These behauptet dagegen, das ursprüngliche Grab lag in den Marken und die Gebeine wurden von Barbarossa irgendwann im 12. Jahrhundert nach Aachen transportiert. Dort wurden sie dann im Jahre 1215 auf Geheiß von Barbarossas Enkel, Friedrich II., in den repräsentativen Karlsschrein gelegt, in dem sie sich bis heute befinden.
  • Karl unterhielt in seinem gesamten Reich Pfalzen, die dem Kaiser und seinen Hofstaat auf seinen Reisen durch seine Gebiete als Aufenthalt dienten. Für alle Pfalzen gab es akribisch dokumentierte Anweisungen, was dort für die kaiserlichen Besuche vorgehalten werden sollte. Diese Anweisungen waren die Capitulare de Villis(Landgüterverordnung). Erstaunlicherweise werden dort viele mediterrane Lebensmittel, die es in Aachen nicht gab, aufgeführt, einschließlich des „Vin cotto„, der vor allem in den Marken bekannt ist. War Karls Wahlheimat also die Region Marken?
  • Theodulf von Orléans, Kanzler und Berater Karls, schrieb diesem, dass er in Germigny des Près, im heutigen Frankreich, eine Kirche nach dem Modell der Pfalzkapelle in Aquisgrana gebaut habe. Vergleicht man die Grundrisse von Germigny des Près mit denen von San Claudio und dem des Oktogons des Aachener Doms, fällt einem die Ähnlichkeit von ersterem mit zweiterem auf; dagegen hat der Aachener Dom eine ganz andere Grundfläche. Ist also Aquisgrana nicht identisch mit Aachen, sondern liegt es bei San Claudio?
  • Einhardt, Leiter der Hofschule Karls des Großen, Begleiter auf dessen Reisen und sein Biograf, beschrieb unter anderem eine Wildschwein-Jagdszene: Die Jagd begann bei Aquisgrana und dauerte den ganzen Tag an, bis die Gesellschaft abends am Meer angekommen war. Aachen liegt aber mindestens 200 km vom Meer entfernt, während es von San Claudio nur circa 25 bis 30 km bis zum Meer sind. Ein weiteres Indiz, das dafür spricht, dass das Aquisgrana Karls des Großen bei San Claudio liegen könnte.
  • Ungereimtheiten im zeitlichen Ablauf im Winter 800/801: Laut Überlieferungen ist Karl Weihnachten des Jahres 800 nach Rom zu seiner Kaiserkrönung gereist, dann war er im Februar 801 in Aquisgrana, um persönlich ein Diplom über die Abbazia von Farfa zu erlassen, und sei zu den Osterfeierlichkeiten 801 wieder in Rom gewesen. Es scheint unmöglich, dass Karl mit Gefolge in diesen kurzen Zeitabschnitten von Rom nach Aachen und wiederum nach Rom gereist ist, zumal im Winter über die Alpen. Wäre Aquisgrana bei San Claudio gewesen, wären diese Reisen gut machbar gewesen.
Kaiserkrönung Karls des Großen in Rom

Wir bekommen mehr Informationen vom Centro Studi San Claudio al Chienti.

Wir verlassen also in Gedanken das Obergeschoss, um uns auch unten in der Kirche umzusehen, da kommen uns zwei Männer mit Aktentaschen und Unterlagen unter dem Arm entgegen. Es stellt sich heraus, dass es Alberto Morresi und Albino Gobbi vom Centro Studi San Claudio al Chienti sind, die die Forschungen Carnevales, der 2021 verstorben ist, weiterführen. Wir kommen direkt ins Gespräch und die beiden erläutern uns noch einmal die Hauptthesen. Als Albino Gobbi hört, dass ich aus Aachen stamme, meint er lächelnd: „Dein Aachen ist nicht das Aquisgrana Karls des Großen, aber es ist das von Barbarossa“. Wir machen noch ein paar gemeinsame Fotos und darauf fahren die beiden wieder weg. Wir vermuten, der Pfarrer hatte sie informiert, dass sich 2 Bloggerinnen für ihre Thesen interessieren.

Es gibt noch viel mehr Thesen und Entdeckungen zu diesem Themenkomplex, die mehr oder weniger abenteuerlich klingen, aber das würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Mir raucht schon der Kopf davon! Manche haben für mich den Anschein von Verschwörungstheorien. Schließlich müsste die mittelalterliche Geschichte neu geschrieben werden, wenn die Thesen stimmen würden. So kommt mir alles fast so vor, wie aus einem Dan-Brown-Roman.

Fazit unmöglich.

Was stimmt und was nicht stimmt, vermag ich als Laiin, die gerade erst in die Dokumentation eingetaucht ist, nicht zu sagen. Vielleicht liegt die Wahrheit auch in der Mitte: Aachen besitzt viele hochkarätige Reliquien, die Karl der Große aus aller Welt zusammengetragen hat, und die Aachen schon vor Barbarossas Zeiten zu einem beliebten Wallfahrtsort machten. So beschreibt es mein Großonkel Schiffers in einem Buch von 1951. So unbedeutend kann Aachen zu Karls Zeiten also nicht gewesen sein, im Gegenteil. Andererseits finde ich einige Argumente der San-Claudio-Theorie recht plausibel; sie klingen, als wäre Karl auch in den Marken sehr präsent gewesen.

Die Reaktion von einem Historiker aus dem Aachener Umfeld lautete sinngemäß: „eine nette Geschichte“ und selbst von bekannten Historikern aus Italien höre ich ein „kann nicht sein, sonst hätte man mehr darüber in den mittelalterlichen Schriften gefunden, die zahlreich erhalten sind“. In den Marken dagegen hält sich die San-Claudio-These unter vielen Menschen; schon mehrfach sind wir bei unseren Besichtigungen auf Leute gestoßen, die uns darauf hinwiesen.

Was ich mir daher wünschen würde, wäre, dass mir die Kritiker der San-Claudio-These die Hauptargumente der These plausibel erklären bzw. widerlegen könnten. Vielleicht könnte dazu in Aachen sogar eine Studienarbeit geschrieben werden.

Ich jedenfalls bin weiter sehr gespannt, wie die Forschungen weitergehen und ob das Grab Karls des Großen je gefunden wird. Und wo.

Signum / Unterschrift Karls des Großen (Quelle: wikimedia commons)

In jedem Fall kann ich aber einen Besuch der sehr ungewöhnlichen Kirche San Claudio im Val di Chienti empfehlen!


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