Wusstet Ihr, dass es in den Marken bis zum Anfang des 20.Jahrhunderts eine große Seidenindustrie gab? Und dass dort unter Führung einer mutigen und entschlossenen Frau namens Gemma Perchi ein Streik um den 8-Stunden Tag im Sinne der Arbeiterinnen erfolgreich beendet wurde?
Jesi, damals ein Zentrum der Seidenproduktion in Italien, feierte am 1. Mai dieses Ereignis unter dem Motto „100 Jahre 8 Stunden“ und Isabelle und ich konnten an einer Führung auf den Spuren der Seidenindustrie teilnehmen.
Tatsächlich war Italien im 13. Jahrhundert der größte Seidenproduzent in ganz Europa. Aber wie kam die in China streng bewachte Seidenraupe überhaupt nach Europa? Es sollen Mönche gewesen sein, die im 6. Jahrhundert nach Christus heimlich einige der Raupen aus China herausgeschmuggelt haben um sie dem byzantinischen Kaiser Justinian zu schenken.
In Jesi war die Seidenindustrie ab dem 19. Jahrhundert besonders erfolgreich, denn sie brauchte viel Wasser für den Herstellungsprozess und das gab es ausreichend im Fluss Esino und in den vielen Quellen in Jesi.
Seide wird aus den Kokons der Seidenspinnerraupen hergestellt: Seidenspinner sind eine Schmetterlingsart, aus deren Eiern die Seidenraupen schlüpfen. Circa 1-2 Monate nach dem Schlüpfen spinnen die Raupen einen Kokon aus einem Seidenfaden, der aus einer ihrer Körperdrüsen kommt. In diesem Kokon verpuppt sich die Raupe und schlüpft nach circa 1 Woche wiederum als Schmetterling.
In der Seidenproduktion tötete man diese Kokons mit heißem Wasser ab und löste das Material heraus um daraus wiederum Seidenfäden zu spinnen. Diese wurden dann in Nord-Italien zu Stoffen verarbeitet.
Fast jeder Bauer in der Region um Jesi züchtete Seidenraupen und lieferte die Kokons an die Fabriken. Die Seidenraupen fressen im wesentlichen Blätter des Maulbeerbaumes. Sie zu füttern war meist Aufgabe der Frauen auf den Höfen. So hörte Isabelle von alten Frauen, dass diese sich auch heute noch an die lauten Schmatz-geräusche der fressenden Raupen erinnern können.
In Jesi selbst gab es Anfang des 20. Jahrhunderts mehr als 30 Spinnereien! Die Arbeit wurde im Wesentlichen von Frauen und Kindern gemacht. Zwar war Kinderarbeit eigentlich verboten, aber die Leute waren arm und hatten viele Kinder – also wurden diese zum Arbeiten in die Fabriken geschickt. Wenn dann eine Kontrolle kam, versteckten sich die Kinder im Hause des Direktors oder unter den Röcken der Arbeiterinnen.
Die Arbeit war hart und sehr schlecht bezahlt und es gab Lohnabzüge, wenn der gesponnene Faden zum Beispiel zu dick war. 1919 schließlich streikten die mehr als 1000 Arbeiterinnen der Fabriken unter der Führung von Gemma Perchi, um den 8-Stunden-Tag durchzusetzen. Es brauchte einige Kraft, alle von einem so langen Streik und dem damit verbundenen Einkommensverlust zu überzeugen. Arbeiterinnen wurden willkürlich verhaftet, wenn sie sich auch nur in der Nähe der Streikenden aufhielten. Aber schließlich wurde der 8-Stunden-Tag (an 6 Tagen der Woche!) durchgesetzt.
Den gab es übrigens auch in Deutschland seit 1918, allerdings wurde der 8-Stunden-Tag da 1923 wieder ausgehebelt und erst nach dem 2. Weltkrieg durch die Alliierten wieder eingesetzt. So gelten die Seidenspinnerinnen von Jesi mit zu den ersten in Europa, wenn es um die Durchsetzung des 8-Stunden-Tages geht.
Die Gesamte Seidenproduktion der Gegend brach in den 1950er Jahren vollständig zusammen, schlechterdings, weil die Bauern wegen der besseren Beschäftigungssituation und Bezahlung irgendwann lieber in den allerorts neu gegründeten Fabriken arbeiten wollten. So dass keiner mehr Seidenraupen züchtete und der Seidenindustrie schlichtweg die Rohstoffe ausgingen.
Während unserer geführten Tour konnten Isabelle und ich einige der großen Fabrikgebäude sehen, so einst Spinnereien drin waren. Unter uns waren verdeckte Wasserläufe, die das Wasser für die Seidenproduktion lieferten.
Was ist sonst noch von der Seidenindustrie übrig gebliegen? Auf dem Lande sieht man manchmal noch die alten, majestätischen Maulbeerbäume, auf Italienisch Gelso oder auch Moro genannt, die man zum Züchten der Seidenraupen brauchte. Im Garten des Restaurants „Vittoria il Graditempo“ in Rosora steht noch ein prächtiges Exemplar, unter dem man im Sommer herrlich im Schatten sitzen kann.
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