Aus wie vielen Einzelteilen besteht wohl ein Akkordeon, meint Ihr? Nun, aus ungefähr 1500 Teilen und es ist damit eines der kompliziertesten Musikinstrumente.
Obschon Akkordeons überall auf der Welt hergestellt werden und schon im 19 Jahrhundert Fabriken in Österreich und in Deutschland entstanden, ist Castelfidardo in den Marken heute zweifellos das Zentrum der Akkordeonindustrie. Hier erwarb Paolo Soprani von einem Loreto-Pilger ein vom Österreicher Cyrill Demian erfundenes Instrument, das als Ur-Version des modernen Akkordeons gilt. Soprani entwickelte das Instrument erfolgreich weiter und gründete damit die Akkordeonbauer Tradition in Castelfidardo. Heute nennt Wikipedia 50 Akkordeonbetriebe in Castelfidardo (wir hörten von ungefähr 35), in einem Ort mit 18000 Einwohnern! Und auch bei Akkordeonspezialisten im deutschen Internet dominieren die Hersteller aus Castelfidardo klar die Empfehlungslisten.
Federico Brocani, Gründer von „Marchecraft„, einer Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, Touristen das marchigianische Handwerk näherzubringen, organisierte für uns eine geführte Tour bei einem der berühmten Akkordeonhersteller, der „Victoria Accordion„. Und das während der PIF, dem internationalen Akkordeonfestival in Castelfidardo.
Der Victoria Showroom liegt mitten im historischen Zentrum von Castelfidardo und schon während wir dort hingehen, merken wir, dass der Ort während des Festivals „Akkordeon„ atmet, denn überall sieht man Leute mit ihren Instrumenten oder hört Akkordeonklänge aus Häusern und Räumen. So auch bei „Victoria Accordion„, wo wir zum Klang von Akkordeonmusik eintreten.
Elke Ahrenholz, die Besitzerin und selber Akkordeonistin, Künstlerin und Lehrerin, ist mit einigen Kunden beschäftigt, und so führt uns ihre Assistentin Linda durch die Geschichte dieses Traditionshauses. Elke ist Deutsche und Linda kommt aus der Schweiz und so komme ich in den Genuß einer Führung auf Deutsch.
„Victoria Accordion„ wurde 1919 von den Dari und Picchietti Familien in Castelfidardo gegründet. Damals noch unter dem Namen der Familien, aber nach kurzer Zeit änderten sie den Namen in das international leichter verständliche „Victoria„. Der Name war – so erzählt es die Firmenchronik – inspiriert von der Victoria Station in London. 1984 wurde das Unternehmen an Vittorio Breccia verkauft, dessen Schwiegertochter Elke ist.
Die handwerkliche Akkordeonwerkstatt war von Beginn an eine der besten in Castelfidardo und darüber hinaus. Dadurch kamen viele Kooperationen mit bekannten Akkordeonkünstlern zustande, die regelmäßig in Elke’s Showroom vorbeischauen und deren Konterfeis einem von den Wänden entgegenblicken. Auch heute noch werden die Instrumente in Handarbeit im Werk gefertigt und gestimmt.
Seit 1999 benutzen sie für die Fertigung Ahornholz aus „Val di Fiemme„, dem Ort in Norditalien, aus dem auch das Holz für die berühmten Stradivari-Geigen herkommt. Einige Teile, wie zum Beispiel die Tasten, sind vorgefertigt. Andere werden komplett selbst hergestellt. Bis zu 4-5 Monate brauchen die Handwerker, um solch ein Instrument zu bauen.
Zurzeit arbeiten 9 Leute in der Victoria Fabrik. Wir haben Franco getroffen, den erfahrensten Akkordeon Bauer aus Castelfidardo, denn er arbeitet schon seit 1963 bei Victoria. Wir waren ganz begeistert, als wir seinen Arbeitsplatz besichtigten: all die vielen Werkzeuge und Teile, die dort zusammengesetzt wurden.
Aber Elke beliefert nicht nur die bekannten und erfahrenen Künstler aus der ganzen Welt, sie engagiert sich auch sehr stark für den weltweiten Nachwuchs. Und in der örtlichen Mittelschule dürfen die Schüler nicht nur bis zu 5 verschiedene Instrumente erlernen, von denen meist eines das Akkordeon ist. Sie können außerdem noch einen Kursus bei Elke besuchen, bei dem sie ein Akkordeon zusammenbauen. Im Jahr 2019, in dem sich der Tod Leonardo Da Vinci zum 500. Mal jährt, bauten sie zu seinen Ehren ein Akkordeon. Da Vinci hatte eine Vorform des Akkordeons, ein sogenanntes Organetto, erfunden.
Besonders spannend sind die Akkordeon Workshops, die Victoria anbietet: Um die 10 Teilnehmer, oft aus 8-9 verschiedenen Ländern, werden hier im Akkordeonbau und der Akkordeonreparatur unterrichtet. Darunter sind sowohl Berufs- als auch Hobby-Musiker und Instrumentenbauer.
„Wir wollen den Musikern und Enthusiasten die Möglichkeit geben, das wertvolle Instrument von Grund auf kennenzulernen. Auch, wie man es pflegt, Schäden erkennt und repariert und sogar, wie man ein Akkordeon von Grund auf zusammenbaut. Wir bieten die ultimative Akkordeon-Erfahrung: tiefgehende praktische Erfahrung und Hands-on Kontakt mit bekannten Akkordeonisten, Lehrern und Bewahrern dieser langjährigen Handwerkskunst„.
Bei Victoria gibt es nicht nur Akkordeons (oder Fisarmonica, wie sie im italienischen genannt werden), sondern auch Bandoneons und Concertinas. In den oberen Räumen kann man eine große Vielfalt dieser historischen Instrumente bewundern, denn dort beherbergen sie eine umfangreiche Privatsammlung eines deutschen Sammlers Konrad Steinhart.
Schon beim Eintreten in die Ausstellungsräume springt einem ein großes, signiertes Plakat von Astor Piazzolla, dem berühmten argentinischen Bandoneon-Spieler, ins Auge. Dabei sei das Bandoneon in Deutschland erfunden worden, erzählt uns Linda. Deutsche Migranten haben es nach Argentinien gebracht, wo es das perfekte Instrument für die Tango-Musik wurde, mit der später auch Piazzolla so bekannt wurde.
Castelfidardo ist nicht nur für Akkordeon-Enthusiasten eine Reise wert, es gibt ein Akkordeonmuseum, Akkordeonfabriken und Akkordeongeschäfte, die auch für Laien wie mich spannend sind. Am schönsten ist es sicher Mitte September während des PIF Festivals, denn dann kann auf der Open-Air Bühne kostenlos die Konzerte der Wettbewerbsteilnehmer hören. Und wer tiefer eintauchen will, der sollte sich auf der Marchecraft Seite das Angebot der Akkordeonworkshops anschauen. Oder auf der Victoria Seite die verschiedenen Kursangebote anschauen.
4 Kommentare
Frank Nebl · 10 April 2020 um 20:15
Vielen Dank für den schönen, informativen Bericht. Herzliche Grüße, Frank Nebl
elke · 14 April 2020 um 14:33
Dankeschön!!
Peter Ueding · 27 Mai 2024 um 20:58
„Nee“, denke ich, „das gibt’s doch gar nicht!“ Mit Mühe habe ich gerade den Namen des Ortes Castelfidardo und den Namen des Gerätes Fisarmonica auf italienisch gelernt und einen Besuch im örtlichen Fisarmonica-Museum (mit Italienisch-Deutsch-Übersetzung) hinter mich gebracht, da bekomme ich (und die Gruppe der ich angehöre) eine exzellente Einführung in die Konstruktionskunst dieser Geräte in deutscher Sprache von der Chefin der Produktionsfirma Victoria Accordeon Elke Ahrenholz-Breccia. Soetwas kann man nicht wirklich erwarten! Ich habe wenig Ahnung, aber was ich erlebe, beeindruckt mich sehr: eine empathische Chefin und echt interessante Informationen über die vielen Teile, ihr Zusammenwirken und den Zusammenbau. Als dann noch Rolf aus unserer Gruppe auf einem der Akkordeons zeigt, was er musikalisch drauf hat, weiß ich genau: Das war eine besonderer Moment.
elke · 30 Mai 2024 um 18:02
Danke für den Bericht! Wir fanden den Besuch bei Elke Ahrenholz auch toll.