Die Adelsresidenz der Marchese (Markgrafen) von Castiglioni im Herzen von Cingoli kann man nach Voranmeldung besichtigen, fand Isabelle heraus. „Nichts wie hin!“ sagten wir uns und haben den Palazzo, in dem 1761 Papst Pius VIII geboren wurde, für Euch besucht.
Der größte Teil des Palazzos wird im Frühjahr und Sommer noch von der Familie Castiglioni bewohnt, während sie die restliche Zeit in Rom verbringen.
Unser Reiseführer Simone Sgalla wartete bereits, als wir ankamen, und öffnete das große Tor, durch das früher, so erklärte er, die Kutschen gefahren sind. Im Erdgeschoß befindet sich in einem Teil der Räume das Restaurant „La Cantina del Palazzo“, das bei unserem Besuch aber vorübergehend geschlossen war.
1599 kaufte Bernardo Castiglioni aus Mailand das Gebäude, das im 17. Jahrhundert mit dem Nebengebäude zusammengeführt wurde, so dass ein stolzer Palazzo von 120 Zimmern entstand! Da weder Isabelle noch ich einen besonders guten Orientierungssinn haben, waren wir froh, dass uns Simone ortskundig und sicher herumführte: es ging tatsächlich treppauf und treppab durch Dutzende von Türen und Gänge und sogar in die Kellergewölbe.
Im ersten Raum verrieten uns ein riesiger Kamin und eine Reihe von Töpfen und Pfannen, dass wir uns in der Küche befanden.
Dann durchquerten wir die schön im Palazzo integrierten Restaurant-Räume und gelangten zum Keller mitsamt dem ehemaligen Schneekeller. Ganz unten stehe immer eine gewisse Menge Wasser, erklärt Simone, und das sah kristallklar aus und roch überhaupt nicht modrig!
Eine Öllampe in der Nische erinnerte uns daran, dass es früher kein elektrisches Licht gab. Heute freut sich unser Führer, dass sich das geändert hat, denn er hatte auch so gut zu tun, für uns in jedem Raum das nunmehr elektrische Licht an- und nachher wieder auszuschalten.
Über ein großzügiges, lichtes Treppenhaus gelangten wir in einen Raum, dessen mächtiger Kaminsims und einige Türrahmen aus anderen Häusern zusammengetragen worden waren.
Ein Highlight war für mich die Privatkapelle, die im Dach wunderbare, himmelblaue Fresken bereithielt und mit allerlei Sammelsurium vollgestellt war, darunter auch die ehemalige Familienlimousine: eine Sänfte!
Nirgendwo in den Räumen gab es Absperrungen oder Ketten, so dass wir uns frei in den Zimmern bewegen konnten. Sowas gibt es nicht mehr so häufig und wir mußten der Versuchung widerstehen, nicht auf einem der ausladenden Sofas Platz zu nehmen, die so aussahen, als würden sie jede Minute den Marchese (Marquis) von Castiglioni aus Rom zurückerwarten.
Die Sensation war das Musikzimmer, in das sich Isabelle augenblicklich verguckt hatte: Es war so belassen, wie es vermutlich in seinen besten Jahren genutzt worden war, als die adeligen Gäste rauschende Feste gefeiert haben müssen. Viel Platz (zum Tanzen?) und unzählige Sitzgelgenheiten, die sich im Raum verteilten.
Von der Decke hing ein riesiger Kronleuchter aus mundgeblasenem Glas. Der war nicht von venezianischen Glasbläsern gefertigt, sondern von Kunsthandwerkern aus San Severino Marche! Allerdings fehlte ein Teil, der wohl leider während der Besetzung im letzten Weltkrieg bei einem rauschenden Gelage abgeschlagen worden war.
Auch das eine oder andere Einschußloch, zum Beispiel in einem der Gemälde, zeugte von etwas ausser Kontrolle geratenen Gelagen aus dieser Zeit!
Die Decke selbst war der besseren Akkustik wegen in viele einzelne Kuppeln unterteilt worden, von denen jede einzelne filigran bemalt und mit Fresken versehen war.
Das Schlafzimmer Pius des VIII, indem auch seine päpstlichen Kleider ausgestellt waren, und in dem das Bild einer gen Himmel flehenden Maria über dem Bett hing, wirkte dagegen spartanisch nüchtern.
Die Bibliothek beziehungsweise der Lesesaal des Palazzos wurde noch von den Marquis genutzt, denn auch wenn wir die eigentlichen Privaträume der Familie nicht zu sehen bekamen, erklärte unser Führer, dass einige der Räume, die wir besuchten, immer noch von der Familie frequentiert würden. Isabelle entdeckte natürlich direkt den belgischen Taschenrechner von 1933 auf dem Schreibtisch!
Überhaupt sehr erfrischend, dass die Familie so viele kostbare Utensilien aus den verschiedenen Jahrhunderten aufbewahrt hatte. Neben alten Antiquitäten erblickten wir Modernes und sogar neuere Fotos der Marquise. Irgendwie wirkten die Räume dadurch bewohnter und weniger museumshaft.
Das Familienarchiv war wiederum in einem separaten Raum untergebracht und enthielt alte und neue Unterlagen des Familienunternehmens.
Eine Liste von Priestern, die alle zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurden, war besonders herausgestellt, um zu zeigen, dass Pius VIII eine große Abneigung gegen Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme hegte. So erhielt auch seine eigene Familie unmittelbar nach seiner Ernennung zum Papst einen Brief, der sie bat, nicht nach Rom zu kommen, sondern in Cingoli zu bleiben und für sein Seelenheil zu beten und keine Vergünstigungen zu erwarten.
Aber wer war Papst Pius VIII, der mit bürgerlichem Namen Francesco Saverio Maria Felice Castiglioni hieß? Er war das dritte von 8 Kindern der Adelsfamilie Castiglioni/Ghislieri. Er studierte Theologie in Osimo und Bologna, wurde 1785 Priester und bereits 1800 zum Bischof von Montalto in den südlichen Marken ernannt. Während der napoleonischen Besetzung weigerte er sich, dem französischen Kaiser die Treue zu schwören und landete in einem französichen Gefängnis. Papst Pius der VII belohnte ihn später dafür und ernannte ihn zum Kardinal. Als der Nachfolger Pius des VII, Papst Leo XII (der übrigens auch aus den Marken, nämlich aus Genga stammt), starb, wurde Francesco Saverio Maria Felice Castiglioni zum neuen Papst erkoren und nannte sich Pius VIII.
Er galt als konservativ in Glaubenssachen aber als recht modern in seinen politischen Ansichten. Eine seiner damals wichtigen Entscheidungen, war, den römischen Juden die Erlaubnis zu erteilen, ihr Ghetto auch nachts zu verlassen. Zum Dank erhielt er ein schönes Kaffeegeschirr von der jüdischen Gemeinde, das die Familie in einer großen Vitrine aufbewahrt. Allerdings dauerte sein Pontifikat nur etwa 1,5 Jahre ( März 1829- November 1830), denn er starb Ende 1830, so sagt man, an Asthma.
Im Flur weist uns Simone auf ein Triptychon hin, das wahrscheinlich von einem unbekannten flämischen Meister aus dem 14. Jahrhundert gemalt wurde.
In einem Buch zeigt er uns schließlich noch die Abbildung einer Goldenen Vase, die mit 10 aus Gold getriebenen Rosen verziert war: dies wäre ein Geschenk des Papstes an seine Geburtsstadt, die Stadt Cingoli, gewesen.
Zum Glück wußte Simone, wie wir aus den vielen Räumen wieder hinauskommen, denn alleine hätten wir den Ausgang vielleicht nicht mehr gefunden!
Wer den Palazzo einmal besuchen möchte, kann sich jederzeit an unseren kundigen Führer Simone Sgalla (Telefon 0039 3285832320) wenden. Es kostet 3€ pro person. Er spricht allerdings nur Italienisch und etwas Französisch, aber ich denke, der Palast beeindruckt auch, wenn man nicht alle Erklärungen versteht.
Wir möchten uns auf jeden Fall sehr herzlich beim Marchese Castiglioni dafür bedanken, dass wir den Palazzo besuchen durften, und dass die Familie die historischen Gemächer erhalten und Besuchern zugänglich macht.
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