Ecco Le Marche

Wer wirft hier denn einfach Papier und Zeitungen auf den Boden?“ fragte sich Mit-Bloggerin Isabelle, als sie anlässlich des Rossini Jahres vor 3 Jahren durch das gemütliche Küstenstädtchen Pesaro schlenderte.

Denn einige Schritte voraus sah sie Papier und Tüten auf der Straße verstreut.

Die Empörung wich der Verwunderung, denn das Papier blieb liegen, auch wenn Menschen darüber gingen.

Neugierig näherte sie sich dem Papierhaufen. Er entpuppte sich als versteinerte Zeitungen, Plakate und im Pflaster eingemauerte Formulare: eine Zeitung aus dem Jahr 1938, die am Tag der italienischen Rassengesetzgebung herausgegeben wurde, Dokumente zur Einberufung von Juden in Arbeitslager und was sie mitnehmen durften, Aufforderungen an die Gemeinden, die korrekte Zahl der jüdischen Einwohner zu melden …

Ein Stück weiter das vertraute Gesicht von Anne Frank samt Fragmenten aus ihrem Tagebuch. Ihre Ermordung im KZ Bergen-Belsen nach Jahren des Versteckens auf einem Dachboden in einem Hinterhaus in Amsterdam steht symbolhaft für die fürchterliche Verfolgung und Zerstörung vieler Familien und Millionen von Opfern durch die Nazis und hat mich schon früh erschüttert.

Anne Franks Familie kam aus Frankfurt und lebte auch wenige Jahre in meiner deutschen Heimatstadt Aachen, bevor sie vor der immer konkreter werdenden Bedrohung der Nazis nach Amsterdam floh um sich dort bis zu ihrer Entdeckung, Verschleppung und Ermordung (im Jahre 1944 in Bergen-Belsen) zu verstecken. Aber was hatte das mit Pesaro zu tun?

Ein weiteres versteinertes Blatt auf dem Boden liefert die Erklärung: Im Jahre 2008, also genau 70 Jahre nach dem Erscheinen der Rassengesetze in Italien, beschloss die Kunstschule Mengaroni in Pesaro, mit ihren Studenten ein Mahnmal zu schaffen und tauften das Projekt „Fogli Fossili“ oder „Fossilien-Blätter“.

Die Künstlergruppe bekam 2007/2008 den nationalen Preis „I GIOVANI RICORDANO LA SHOAH“ (Junge Menschen erinnern an die Shoah) und das Kunstwerk wurde in das italienische Gedenksteinprojekt aufgenommen, das den Opfern des 2. Weltkrieges gedenkt.

Ein guter Beitrag auch zum „Giorno della Memoria“ (Dem Tag des Gedenkens an den Holocaust), der von den Vereinten Nationen am 27. Januar 2005 erstmals eingeführt wurde: Er erinnert an den 27.1.1945, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz-Birkenau durch die russische Armee. Italien hatte diesen Tag bereits im Jahre 2000 zum Gedenktag erklärt: seitdem werden im ganzen Land, besonders auch an Schulen, verschiedenste Aktivitäten organisiert, damit ein solch fürchterliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie vergessen wird.

Es ist auch kein Zufall, dass dieses Denkmal an der Ecke Piazza del Popolo und Via Rossini errichtet wurde, denn hier lebten Ende des 18. Jahrhunders mehr als 500 Juden. Ein jüdisches Ghetto gab es bereits im 17. Jahrhundert.

Das einzige jüdische Gebäude, das die Zeit überdauert hat, ist die Synagoge in der Via delle Scuole 23 aus dem 16. Jahrhundert und mit Renovierungen im 18. und 19. Jahrhundert. Von Oktober bis Mai kann man es jeden 3. Sonntag im Monat jeweils von 10 bis 13 Uhr kostenlos besichtigen, im den Sommermonaten von Juni bis September jeweils von 17 bis 20 Uhr. Auf Anfrage sind auch andere Besichtigungstage möglich.

Beim nächsten Pesaro Besuch also nicht vergessen, auch auf den Boden zu schauen!


1 Kommentar

Ursula Hirmann · 9 August 2024 um 09:02

Ich sehe hier einen ersten Schritt der Erinnerungskultur. Mich befremdet aber, dass bis heute keine weiteren Schritte von Seiten der Komune gesetzt werden um dieses zerstörte Gotteshaus wieder instand zu setzen. Ich denke, es wäre eine wunderbare Geste der Wertschätzung gegenüber der italienischen jüdischen Mitbürger und auch ein Teil zur Aufarbeitung dieser Zeit. Auch wenn es in Pesaro keine jüdische Gemeinde mehr geben sollte, man weiß es ja nie so ganz genau, in Zeiten wie diesen, ist es glaube ich gut zu zeigen, dass man diese Religion schätzt, wo wir doch im christlichen Kulturkreis und Glauben auch unsere Wurzeln haben.

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