Ecco Le Marche

L’infinito (die Unendlichkeit), das Gedicht des in Recanati geborenen Schriftstellers Giacomo Leopardi, ist für mich wie eine Hymne auf die Region Marken.

Leopardi und das l’Infinito

Der bekannte romantische Dichter (1798-1837) starb mit nur 39 Jahren und litt lebenslang unter Geldmangel. Er war kränklich und fühlte sich in Elternhaus und katholischer Provinz eingeengt. In einem seiner bekanntesten Gedichte beschrieb er den Ausblick auf Hügelketten und Meer, den er von den Gärten unweit des elterlichen Hauses in Recanati aus genoss. In wenigen Zeilen drückte er seine Sehnsucht nach Weite und Flucht aus. Dabei gelang es ihm gleichzeitig, eine Liebeserklärung an die marchigianische Landschaft zu schaffen. Jahre hatte er an diesem kurzen Gedicht herumgefeilt, so dass es ein Meisterwerk wurde, das kein Geringerer als Rainer Maria Rilke ins Deutsche übersetzte. (Es klingt meiner Meinung nach aber mehr nach Rilke als nach Leopardi).

Auf nach Recanati!

Darüber wollte ich mehr erfahren und so fuhr ich im August nach Recanati, um mir Geburtshaus und den berühmten Garten auf dem Colle dell’Infinito (dem Unendlichkeits-Hügel) anzuschauen.

Ich parke am weitläufigen Campo Boario und erreiche die Altstadt mit dem berühmten Ausblick bequem über Aufzüge.

Ich bin das erste Mal im Ort und staune über die gut erhaltene Altstadt und den mächtigen Wehrturm Torre Civica, dem auch der Dichter einige Zeilen gewidmet hat. Auf der weiten Piazza Leopardi findet sich natürlich ein Denkmal des berühmten Sohnes der Stadt.

Die Casa Leopardi mit Bibliothek und Museum

Ich durchstreife die Altstadt und gelange zum Gebäudekomplex der Casa Leopardi. Hier wohnen im ersten Stock noch heute die Nachfahren von Leopardis Bruder und halten das Gedenken an den Ausnahme-Dichter aufrecht. Im Erdgeschoss befindet sich das Leopardi-Museum und mit einer Führung kann man Bibliothek, Garten und die Zimmer von Giacomo und seinen Geschwistern besichtigen.

Links die Casa Leopardi, rechts die Kirche, in der er getauft wurde

Giacomo Leopardi war das älteste von fünf Kindern des Grafen Monaldo Leopardi und seiner Frau Adelaide. Das Elternhaus war äußerst streng, aber der Vater war ein fanatischer Sammler von Büchern. Die stammten meist aus Klöstern, die die napoleonischen Besatzer schlossen, so dass die Mönche aus der Not heraus ihre Bibliotheken zu Dumping-Preisen verscherbelten. Die hauseigene Bibliothek wurde rasch zu klein und so wurden sogar die Bediensteten-Zimmer und andere Räume mit deckenhohen Bücherregalen ausgestattet. Sehr beeindruckend!

Hier wuchs also das Wunderkind Giacomo auf: schon mit 11 Jahren schrieb er verschiedene Stücke, die einen ganzen Band füllten. Mit 14, so sagt man, konnten ihm seine Privatlehrer nichts mehr beibringen. Mit 16 begann er, bedeutende antike Werke aus dem Griechischen zu übersetzen. Er beherrschte nun 6 Sprachen: Latein, Französisch, Spanisch, Hebräisch, Griechisch und Englisch – und ich meine, die Führerin erwähnte auch noch Deutsch. Leopardi liest unglaublich viel, versteht sich aber auch bestens mit seinen Geschwistern, die seine Fantasie im Spiel zu schätzen wissen: sie denken sich zusammen Fortsetzungsgeschichten und Märchen aus. Die Eltern dagegen regieren mit strenger Hand und streiten aus Geldnot häufig untereinander.

Natürlich werden wir auf das Fenster im Studierzimmer verwiesen, in dem Leopardi häufig gesessen und gearbeitet hat. Später dürfen wir auch einen Blick in die Schlafzimmer werfen.

Durch den Garten gelange ich ins Leopardi-Museum, das ich aber weniger interessant und etwas unstrukturiert finde, während ich noch im Eindruck der büchergefüllten Wohnräume verweile.

Der Garten am Colle dell’Infinito

Nun will ich mir aber auch den berühmten Garten auf dem Colle dell’Infinito, dem Hügel der Unendlichkeit ansehen: Die FAI (Fondo Ambientale Italiano) hat an dem Ort, den Leopardi wohl im Sinn hatte, als er L’Infinito schrieb, 2019 den ehemaligen Garten wiederhergestellt.

Zunächst muss ich in einem Gebäude meine Eintrittskarte kaufen und darf dann in einer multimedialen Vorführung in das Gedicht L’Infinito eintauchen. Mit meinen Italienischkenntnissen verstehe ich nicht alles, denn das Gedicht wird in all seiner Vielschichtigkeit von Experten erläutert. Aber das, was ich verstehe, finde ich sehr spannend:

L’infinito: Original von Leopardi, dt. Übersetzung von Rilke

Sempre caro mi fu quest’ermo colle,
e questa siepe, che da tanta parte
dell’ultimo orizzonte il guardo esclude.
Ma sedendo e mirando, interminati
spazi di là da quella, e sovrumani
silenzi, e profondissima quïete
io nel pensier mi fingo, ove per poco
il cor non si spaura. E come il vento
odo stormir tra queste piante, io quello
infinito silenzio a questa voce
vo comparando: e mi sovvien l’eterno,
e le morte stagioni, e la presente
e viva, e il suon di lei. Così tra questa
immensità s’annega il pensier mio:
e il naufragar m’è dolce in questo mare.

Immer lieb war mir diese einsame
Hügel und das Gehölz, das fast ringsum
Ausschließt vom fernen Aufruhn der Himmel
Den Blick. Sitzend und schauend bild ich unendliche
Räume jenseits mir ein und mehr als
Menschliches Schweigen und Ruhe vom Grunde der Ruh.
Und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne
Furcht damit um. Und wenn in dem Buschwerk
Aufrauscht der Wind, so überkommt es mich, daß ich
Dieses Lautsein vergleiche mit jener endlosen Stillheit.
Und mir fällt das Ewige ein
Und daneben die alten Jahreszeiten und diese
Daseiende Zeit, die lebendige, tönende. Also
Sinkt der Gedanke mir weg ins Übermaß. Unter-
Gehen in diesem Meer ist inniger Schiffbruch.

Derart bestens vorbereitet betrete ich erwartungsvoll den Garten: Es ist Abend und der Sonnenuntergang steht bevor, so dass alles in einem satten, kräftigen Licht erscheint. Ich bin fast alleine und bei der entspannenden Ruhe kann ich den Blick ins Unendliche, das mich zu umgeben scheint, und den wunderschön gestalteten Garten auf mich wirken lassen.

Im Italienischen unterscheidet man den Gemüsegarten (Orto) vom Ziergarten (Giardino) und der Garten in diesem Fall nennt sich Orto: tatsächlich ist es ein üppiger Gemüsegarten, der aber wie ein Ziergarten gestaltet ist. Hier waren sicher Gartenarchitekten am Werk. Tomatensträucher in Reih und Glied, saftige Trauben hängen von den Lauben herunter, eine dicke Wassermelone lugt aus den am Boden wachsenden Blättern hervor und Birnen schmücken einige der Bäume.

So kann das Paradies aussehen, denke ich. Kein Wunder, dass Leopardi sich hier mit Wehmut und Zuneigung weggeträumt hat.

Letzte Jahre und Tod Leopardis

Bleibt zu erwähnen, dass es Leopardi nach einigen Anstrengungen gelang, dem beengenden Elternhaus zu entfliehen. Dabei musste er in ärmlichsten Verhältnissen in Mailand, Rom und schließlich in Neapel leben. Denn trotz seines Genies fand er keine geeigneten Anstellungen. Möglicherweise, weil er sich politisch für einen italienischen Nationalstaat ohne kirchlichen Einfluss engagierte. Er bekam aber einen Ruf auf den Dante Lehrstuhl in Bonn, den er ablehnte, weil er Italien nicht verlassen wollte.

In seinen letzten Jahren in Neapel, in denen er mit seinem Freund und politischem Weggefährten Antonio Ranieri in beengten Verhältnissen zusammenlebte, verfiel er gesundheitlich immer mehr: Eine Choleraepidemie hatte er überstanden, allerdings konnte er immer schlechter sehen (so dass er seine Texte diktieren musste), wurde immer schwächer und starb 1837 an einem Lungenödem. Der gute Ranieri konnte gerade noch verhindern, dass Leopardis Leichnam in einem Massengrab endete. Heute ist er in einem Grab im Parco Virgiliano in Neapel beigesetzt ist, welches ein Nationaldenkmal ist. Leopardi hinterlässt ein großes und umfangreiches literarisches Werk und ist im italienischen Schulunterricht nicht wegzudenken.

Mein Tag in Recanati neigt sich dem Ende zu. Ich genieße noch ein paar Minuten auf der schönen Piazza von Recanati und denke an den Giovane Favoloso, den fabelhaften jungen Mann, wie Giacomo Leopardi genannt wird.

Der Ausflug nach Recanati war der schönste, den ich dieses Jahr gemacht habe. Und dabei habe ich mich nur auf Leopardi konzentriert. Es gibt noch viel Weiteres, Sehenswertes, so dass ich mit Sicherheit bald wiederkommen werde: Das Emmigrationsmuseum, das Musikmuseum, die Spuren des Operntenors Beniamino Gigli, der Augustinerkonvent mit Kirche, der Torre Civica, das Bild Die Verkündigung von Lorenzo Lotto im Stadtmuseum …

Praktische Tipps

  • Unterhalb von Recanati gibt es einen großen, günstigen Parkplatz am Campo Boario: an Werktagen zahlt man 1,20 EUR pro Stunde; mittags und Feiertags ist er kostenlos. Von dort kann man bequem mit dem Aufzug in die Altstadt hinauffahren.
  • In den Sommermonaten empfiehlt es sich, ein Ticket für die Führung durch die Bibliothek und die Schlafzimmer Leopardis vorzubuchen. Das geht auf dieser Webseite, wo auch die aktuellen Öffnungszeiten stehen. Leider ist die Führung nur auf Italienisch, Englisch wird nur für Privatführungen angeboten, für die man aber 26 Personen sein muss (oder für 26 zahlen muss).
  • Auf der Webseite des Orto dell’Infinito finden sich die Öffnungszeiten und auch hier kann man Tickets vorbuchen. Ich bin allerdings im August auch ohne Vorbuchung hineingekommen.
  • Das Leben Leopardis wurde unter dem Titel „Il giovane favoloso“ verfilmt und bei den Filmfestspielen 2014 in Cannes vorgestellt. Ich habe keine Streamings gefunden, aber es gibt DVDs.


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