Der Zufall führt uns manchmal in Gemeinden, die einst berühmt für die Herstellung oder den Handel bestimmter Gegenstände waren. Man denke nur an die Hüte von Montappone, die Mühlsteine von Cupramontana oder das Spezialpapier von Fabriano!
So auch, als Mit-Bloggerin Isabelle zufällig Orciano erkundete, einen kleinen Borgo, der sich Anfang 2017 mit einigen anderen Orten zur Gemeinde Terre Roveresche zusammengeschlossen hat. Im Ortsnamen Orciano steckt bereits das Wort orcio (Krug), das wir bei einer Besichtigung einer Käserei im nahe gelegenen Dorf Mondavio kennengelernt haben.
Ob wohl der Name Orciano etwas damit zu tun hat, dass es in der Gemeinde so viele Arbeitsplätze gibt?
Isabelle fand es heraus und hier ist ihr Bericht:
Geschichte von Orciano
Die Ursprünge der Stadt beziehen sich in der Tat auf einen Orcio oder Krug, der sich in der Nähe des Janustempels auf einem Hügel im Wald befand, genau dort, wo sich das heutige Orciano befindet. Der Gott Janus wurde für seine Prophezeiungen und Weissagungen verehrt. In den Krug wurden dann Opfergaben zum Dank an den Gott gelegt.
Wahrscheinlich flohen die ursprünglichen Bewohner vor der Schlacht am Metaurus (zwischen Hasdrubal und den Römern) in höher gelegene Gebiete, um sicherer zu leben. Im 7. Jahrhundert zerstörten Christen den heidnischen Janus-Tempel, ersetzten ihn durch eine kleine Kirche und holzten den Hügel ab. Ein Jahrhundert später gab es dann an der Stelle bereits eine ummauerte Festung, deren Herrscher bis ins 15. Jahrhundert immer wieder wechselten; von den Malatesta über die Ghibellinen (Waiblinger) bis zu den Päpsten. Der Wachturm oder Torre Malatestiana geht zum Beispiel auf die Zeit der Malatesta zurück, nämlich auf das Jahr 1348.
Im 15. Jahrhundert kamen die Herzöge Della Rovere an die Macht und ließen eine neue Mauer sowie ein Stadttor errichten. Das Wappen dieser mächtigen Familie ziert noch heute die Spitze des Stadttores.
In der langen Zeit zwischen 1631 und der Gründung des Staates Italien im Jahr 1860 gehörte Orciano dann zum Kirchenstaat.
Erkundung von Orciano
Am Ortsrand kann man gut parken, denn Orciano ist nicht sehr groß. Über einen kleinen Platz erreicht man schnell das Stadttor.
Rechts vom Stadttor sehen wir den ehemaligen Palast der Herzöge della Rovere, der später ein Kloster wurde und heute der Gemeinde gehört.
Kirche Santa Maria Novella
Im historischen Zentrum direkt hinter dem Stadttor, sticht uns das wichtigste Gebäude sofort ins Auge: die Chiesa di Santa Maria Novella (Kirche von Santa Maria Novella). Deren reich verziertes Portal steht in starkem Kontrast zur nüchternen Fassade.
Es wird gerne behauptet, dass der berühmte Maler Raffaello selbst dieses Portal entworfen habe, aber das wird heute als fast unmöglich angesehen. Als Künstler wird heutzutage Ambrogio Barocci genannt, der auch andere Portale, wie das der Dominikanerkirche in Urbino entworfen hat.
Der Herzog Giovanni della Rovere gab 1492 den Auftrag, die alte Kirche durch eine neue zu ersetzen. Der Architekt und gelernte Holzarbeiter Baccio Pontelli, der auch die schönen Holzarbeiten im Atelier des Herzogspalastes in Urbino schuf, entwickelte daraufhin den Entwurf und integrierte sogar den alten Torre Malatestiana in das Kirchengebäude. Der Innenraum macht sofort einen guten Eindruck, denn die Kirche ist klein, aber zweckmäßig gebaut.
Auch der Malteserorden hat den Bau mitfinanziert. Deshalb ziert ein Malteserkreuz den Fußboden der Kirche.
Die rechte Kapelle ist der Madonna von Loreto geweiht; dort gibt es sogar noch ein hölzernes Chorgestühl aus dem 15. Jahrhundert. Die linke Kapelle ist dem Allerheiligsten Sakrament gewidmet.
Hinter dem Altar kann man einen Blick auf ein Chorgestühl aus dem 18. Jahrhundert erhaschen.
Sehenswert sind auch die Stuckarbeiten aus dem 16. Jahrhundert, die alle von Federico Brandani stammen.
Das schöne Fresko der Madonna aus dem Jahre 1510 erstrahlt in prächtigen Farben, ebenso wie ein von Lichtstrahlen umgebenes Gipskreuz aus dem 17. Jahrhundert. Natürlich darf auch ein Taufbecken aus dem Jahr 1600 nicht fehlen.
Das größte Highlight ist jedoch die riesige Statue des auferstandenen Christus aus dem Jahr 1600.
Als wir die Kirche verlassen, treten wir zu unserer großen Überraschung auf einen supermodernen Platz. Seltsam, mitten in einem mittelalterlichen Dorf. Aber das heben wir uns für später auf, denn auf Anraten eines einheimischen Passanten müssen wir zunächst unbedingt das Museum besuchen. Dazu müssen wir uns beeilen, denn es wird zur Mittagspause schließen.
Seil- und Ziegelmuseum von Orciano:
„Seil- und Ziegelmuseum“ verspricht das Plakat. Das macht uns neugierig. Wir werden herzlich von einem jungen Mädchen empfangen, das interessierte Besucher gerne herumführt. Es stört sie auch nicht, dass ihre Mittagspause dadurch verkürzt wird. (Im Nachhinein stellt sich heraus, dass das Museum ausschließlich von ehrenamtlichen jungen Leuten offen gehalten wird!)
Der erste Teil des Museums erzählt von der Ziegelei, deren Schornstein wir schon von außerhalb gesehen hatten.
Die Ziegelei war noch bis 1989 in Betrieb, wie die meisten Ziegeleien in den Marken. Aber dann konnte man nicht mehr mit den billigeren, größeren und moderneren Produktionsstätten konkurrieren.
Das Ziehen von Ziegeln hatten schon die Römer beherrscht, und tatsächlich arbeiteten die Menschen hier noch jahrhundertelang gemäß der römischen Tradition.
Zwei Brüder mit Nachnamen Gasparini aus Corinaldo entdeckten Ende des 19. Jahrhunderts, dass es hier viel guten Lehmboden gab. Sie gründeten daher ein kleines Ziegelei-Unternehmen. Der Ton wurde in Ziegel-Formen gefüllt und in der Sonne getrocknet. Dann wurden die Ziegel unter einem Haufen aus Stroh und Sand gebrannt. Dieser Vorgang dauerte mehrere Tage. Bereits 1890 eröffneten sie eine richtige Fabrik mit Schornstein und gründeten ein Mehr-Personen-Unternehmen. Der Schornstein tat seinen Dienst noch bis in die 1920er Jahre, um dann modernen Öfen Platz zu machen. Jetzt ging es schneller: 7 Tage in der Sonne trocknen und dann 2 Tage in den Öfen brennen – schon ist der Ziegel fertig.
Im Museum sehen wir auch die Kommissionsbücher aus der Fabrik, sowie einige Ziegel und Dachziegel, die dort hergestellt wurden. In ihrer Blütezeit beschäftigte die Fabrik etwa 100 Arbeiter!
Das Museum befindet sich in einem ehemaligen Haus wohlhabender Leute. Allein die Tatsache, dass sie einen eigenen Brunnen im Haus hatten, ist ein Beweis für ihren Reichtum. Denn die meisten Menschen in der Zeit mussten sich ihr Wasser in den orci, den Krügen, aus den öffentlichen Brunnen holen.
Aber Orciano wurde nicht für seine Ziegel berühmt, denn solche Ziegeleien gab es überall im Land. Berühmt wurde die Gemeinde vor allem für ihre Qualitätsseile!
Hanf wurde in Italien bis in die 1990er Jahre angebaut, dann wurde dies per Gesetz verboten. Heute ist es unter strengen Auflagen wieder erlaubt. Es handelt sich bei Hanf um eine langlebige Pflanze, die wenig Wasser benötigt, stärker wächst als Unkraut und eine harte Faser produziert, die sich ideal für Textilien, aber auch für Baumaterial eignet.
Solange der Hanf noch im eigenen Land angebaut wurde, stellten bis zu 40 Seilereien in Orciano daraus robuste Seile her, die in der Schifffahrt sehr gefragt waren. Als das nicht mehr möglich war und sie den Hanf zu höheren Preisen in Frankreich kaufen mussten, stellten die Seiler nach und nach die Produktion ein. Agostino Scipioni stellte seine letzten Seile im Jahr 2000 her und wurde als letzter Seiler mit einem Foto im Museum verewigt.
Im Museum lernen wir zunächst etwas über das Grundprodukt von der Pflanze bis zum Seil. Man erntete den Stamm der Hanfpflanze samt Blättern und ließ ihn 7 Tage lang auf dem Feld trocknen. Dann entfernte man die Blätter und weichte den Stängel für 14 bis 21 Tage in einem Wasserbecken ein. Im nächsten Schritt ging es darum, die einzelnen Fasern so weit wie möglich voneinander zu trennen um so Garn zu erhalten. Dazu benutzte man eine Art Kamm.
Dann folgte das Schlagen oder Flechten der Garne. Hierfür wurde ein Rad verwendet. Je dicker das Ausgangsgarn, desto dicker natürlich auch das Seil.
Ein spannender Besuch, vor allem, wenn man so eine nette Museumsführerin hat!
Öffnungszeiten des Museums:
Oktober-Februar: Samstags von 15-18 Uhr und Sonntags von 10-12.30 Uhr und von 16-18.30 Uhr.
März-September: Samstags von 15-18 Uhr und Sonntags von 15.30-19 Uhr.
Mit dem Ticket zum Preis von 4 € kann man 3 verschiedene Museen besichtigen: das Seil- und Ziegelmuseum, das Ipogeo in Piagge und das MUSA (historisches Umweltmuseum) in San Gorgio di Pesaro.
Wir wollen uns schon für den Besuch bedanken, da merken wir, dass unsere Tour draußen weitergeht: Wir sollen nämlich noch das Geheimnis des modernen Platzes erfahren!
Piazza Giò Pomodoro
Habt Ihr schon von den Gebrüdern Pomodoro, Arnaldo und Giò, gehört? Bestimmt, denn wer kennt nicht die schöne Kugel-Skulptur in Pesaro, die von Arnaldo Pomodoro geschaffen wurde ?
Die Brüder waren beide Bildhauer und Goldschmiede, Giorgio war darüberhinaus auch noch Bühnenbildner und Radierer. Ihre Kunstwerke sind in ganz Italien, aber auch in New York und Brüssel zu finden.
Der jüngere der beiden, Giorgio, wurde in Orciano geboren. 1985 schrieb Giò (Giorgio) einen Brief an den damaligen Bürgermeister, in dem er die Errichtung eines Platzes mit einer Skulptur an der Stelle vorschlug, an der sich einst sein Geburtshaus befand. Zwei Jahre nach seinem Tod, im Jahr 2004, wurde Giòs Wunsch schließlich erfüllt und der Platz mit seiner Skulptur Sole Deposto eingeweiht.
Am Ende der Piazza genießt man einen wunderbaren Blick auf Mondavio und auf die scheinbar unendlichen marchigianischen Hügel, dem l’Infinito, wie es der Dichter Leopardi so schön beschrieben hat. Einige Verse seines berühmten Gedichts l’Infinito wurden daher in den Sockel des Denkmals eingemeißelt
Die Skulptur heißt Sole Deposto, die deponierte Sonne. Viele der Kunstwerke Giò Pomodoros tragen den Begriff „Sole“ im Titel. Unsere Führerin erklärt uns jedoch, dass es wohl eher wie Hammer und Sichel aussieht. Eine merkwürdige Besonderheit besteht darin, dass, wenn man mit der Hand auf die Schlagseite des Hammers klopft, ein metallisches Geräusch zu hören ist. Nur an dieser speziellen Stelle und dass, obwohl die ganze Skulptur aus Marmor besteht!
Am Anfang des Platzes stehen links und rechts ein Bronzeseil und ein Bronzekrug, um auf die Traditionen des Ortes zu verweisen:
Was für tolle Informationen, ohne unsere ehrenamtliche Führerin hätten wir das alles nie erfahren!!!
La Cucina Dialettale:
Aber jetzt haben wir Hunger! Es ist Sonntagnachmittag, da ist es oft schwierig, ohne Reservierung einen freien Platz im Restaurant zu finden. Aber wir haben Glück: ein Stück weiter in San Constanzo, im Restaurant la Cucina Dialettale (auf deutsch etwa: Mundart-Küche), auch da Rolando genannt, lassen sie uns ein. Und es ist der Hit: eine traditionelle Küche mit reichlich Auswahl und auch Trüffelliebhaber kommen hier auf ihre Kosten. Rolando, der 80-jährige Besitzer, hilft sogar noch beim Bedienen aus.
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